/ Februar 27, 2023/ Aktuelles, Science, Wettbewerbe

„Nicht, weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“
Lucius Annaeus Seneca

Das war unser Motto, um es mit den PhilosophInnen der Philosophieolympiade aufzunehmen. Wir wagten es, doch, im Ernst, es war schwer… Aber wer wären wir, würden wir nicht in schwierigen Situationen Inspiration finden. Der Weg ist schließlich das Ziel.

Der Wettbewerb selbst war in vier Stunden abgehandelt, wobei wir aus 4 Zitaten eines auswählten und dazu unsere Gedanken formulierten. Überraschend war die lockere Atmosphäre, ganz im Sinne der Freiheit der Gedanken.

Inspiration fanden wir aber auch in Form neuer Freundschaften, die sich während eines Stadtrundgangs, diversen philosophischen Vorträgen (Wussten Sie, dass alles Leben aus Blausäure besteht?) oder im Zuge eines gemeinsamen Abendessens bildeten.
Auch wenn wir nicht als Gewinner hervorgingen, haben wir doch Erfahrung, Spaß, Anerkennung und Kreativität gewonnen.

Vielleicht wäre es schwerer gewesen, wenn wir es nicht gewagt hätten, doch weil wir uns trauten, wird das nie wieder schwer sein.

Emma Friedl (8a), Chiara Prieschl (8b)

Die Schulgemeinschaft gratuliert Emma (9. Platz) und Chiara (12. Platz) zu ihren großartigen Leistungen bei der Philosophieolympiade 2023!

Hier sind auch ihre Texte nachzulesen:

Emma Friedl

Zitat 2: „Während die einen sagen: Ihr stellt euch an, seid hypersensible „Schneeflocken“!, entgegnen die anderen: Ihr seid verletzend und beleidigend, an eurer Sprache klebt Blut! Der Effekt dieser Frontalstellung ist eine zunehmende Erosion der demokratischen Diskurskultur und ein kaum noch zu kittender Riss, der mitten durch die Gesellschaft zieht.“

Mit- ein- ander(er)

Miteinander – nicht um sonst kann man jenes Wort aufspalten. „Ein“er macht „Mit“ dem „Ander“en etwas zusammen, zumindest in der Theorie. Grammatikalisch bedeuten diese Buchstaben gemeinsam „Miteinander“, aber human gesehen, ist es mehr ein Rätsel als ein Deutschproblem.

Was man gestern schon sah, ist heute kaum mehr rückgängig zu machen: die Welt spaltet sich in Gruppen von Menschen, die unterschiedlicher kaum mehr sein könnten. Es ist ein Hin und Her, ein Vor aber mehr ein Zurück. Ein Zurück in Richtung Gespaltenheit, Apartheit und Steinzeit, zurück zu Rosa Parks und „I have a dream“. Der Zwist innerhalb des Menschen ist genauso entzweit wie die angeblichen drei Welten dieser Erde.

Was für den einen gerecht und gut erscheint, findet der andere gemein und gegensätzlich. Sei es, dass Menschen global gesehen ausgebeutet werden, kaum Bezahlung bekommen und Stunden schuften, die anderen werden doch immer sagen: „Warum kostet das so viel?“ und „Wieso beuten die uns aus?“ Der Mensch ist grundlegend auf Diskurs ausgelegt, sonst kann er nicht überlegen aber auch nicht überleben. Es braucht Austausch und gesunder Streit ist emotional gesehen, das beste was einem passieren kann. Aber wenn es keine Einigung, keine Kompromisse gibt, wie soll es denn nicht in Aporie enden? Wie kann man dann noch miteinander reden? Wenn man weiß, dass kein Ergebnis zu Stande kommen wird? Weil wir alle stur und egoistisch unseren Pfad gehen und uns Hindernisse dermaßen überfordern, dass wir sie einfach auszublenden versuchen und dabei gar nicht bemerken, wie sehr wir dadurch zu Schaden kommen? Wir verpassen etwas! Dabei verabsäumen wir auf der Welt so viel, warum dann auch das Miteinander? Das Zusammenarbeiten, das so wichtig wäre, um die Welt über Wasser zu halten, bildlich, wie auch klimatechnisch.

Wenn wir auf Kompromisse eingehen könnten, uns einander zuhören würden, dann wäre die Welt frei von Despoten, Ukrainekriegen und Klimakrisen! Ja, dann könnte auch für uns noch eine Chance bestehen, unseren Nachkommen etwas zu bieten. Doch, das ist bewusst konjunktivisch, denn wer denkt an übermorgen? Alles ist von morgen, zukunftsorientiert, aber wie weit überlegt man wirklich? Und wie weit denkt man zurück? Es ist ein althergesagter Satz: „Lerne aus deinen Fehlern!“ – aber nie! Emotional sollte man zu analysieren beginnen: man braucht ein Gefühl, etwas Sensibles, um ein Miteinander schaffen zu können, doch werden „Gefühlsduselei“ und Emotionen aus unserem Leben verbannt und wir vereisen von innen, frieren unser Herz aus Frust zu Frost und lassen es von einer hohen Klippe hinabsegeln, bis es am Boden in tausend Stücke zerklirrt. All unsere Gefühle werden von unseren Handybildschirmen reflektiert, uns in Kurzvideos erklärt und gesteuert und sie werden uns vorgegaukelt, um von den eigentlichen Problemen abzulenken. Wir können gar nicht mehr einfühlsam sein, denn wenn wir uns all den Sorgen der Welt öffnen würden, könnte uns kein Antidepressivum mehr retten. Ist die abgeneigte Haltung gegeneinander Selbstschutz? Ein probates Mittel, um nicht in dem Sumpf von Ungewissheiten und Ungerechtigkeiten zu ersticken?

Reißen wir uns das Pflaster von der Haut und lassen sie atmen? Erreichen wir irgendwann die Ruhe, um miteinander leben zu können, ohne, dass jemand eine Randgruppe ist? Können wir den im Zitat angesprochenen „[..] Riss [..]“, noch mit honigsüßer Liebe zusammenkleben, oder ist er schon ein tiefes, hassdurchflutetes Tal? Sollten wir nicht diejenigen sein, die eine Brücke bauen und die zwei Hälften miteinander verbinden, um ein Ganzes sein zu können? Kann die Jugend von heute es besser machen, als die Generationen zuvor? Inwiefern können Akteure beider Seiten aktiv werden, oder müssen?

Egal, was passiert, eines muss der Menschheit klar sein: es ist ein Privileg noch in einer demokratischen Welt leben zu können, auch wenn sie in vielen Ländern nur eine Illusion, ein Hauch und Anschein ist. Und wir, die wir dieses Angebot mitzureden noch genießen dürfen, vergeigen es, indem wir nur noch miteinander streiten und das Schlechteste von einander denken. Demokratie heißt zu diskutieren, aber Demokratie bedeutet auch Kompromisse einzugehen. In Platons Sokratischen Dialogen kämpft man mit dem Gedanken, dass das einfache Volk Entscheidungen treffen könne, obwohl es doch Philosophen gäbe, die diese Arbeit viel besser machen könnten. Und doch hat es sich all die Jahre vereinzelt gehalten, das Recht der Mitbestimmung, das heutzutage viel zu wenig geschätzt und aufrechterhalten wird. „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen“, sagte schon Winston Churchill, doch wenn die Vorbilder fehlen… Politiker in der ganzen Welt, beschmieren sich gegenseitig nur mehr mit Horrorgeschichten und Intrige, anstatt Lösungen gemeinsam zu finden. Ist es also vielleicht nicht nur der Untergang der Demokratie, sondern auch unseres Planeten? Verschleiert das Beharren auf das Selbst den Weg zur Lösung aller menschlichen Probleme? Das Prinzip „Wenn sich das jeder denken würde, dann würde es keiner machen“, in Bezug auf unterschiedlichste Themata, wie zum Beispiel Klimawandel, funktioniert nur, wenn jeder seinen kleinen Teil macht und nicht geblendet wird von dem Glanz seiner Ehre.

 „Γνῶθι σεαυτόν“ („Gnothi seauton“) – sollten wir uns der Antike verschreiben und diesen Lösungsweg ausprobieren?

 „Erkenne dich selbst“ – fällt es uns dann leichter auf den anderen einzugehen?

Wenn man sich selbst kennt, kann man den Vorurteilen der anderen Seite des Spaltes entgegenwirken und ins Gespräch kommen. Man muss seine Grenzen kennen, seine Gefühle, die vielleicht wie „[..] Schneeflocken [..]“ sind, aber vielleicht auch „[..] beleidigend [..]“ und sie versuchen zu kontrollieren. Denn jeder Mensch hat eine unterschiedliche Natur an Temperament und das ist auch gut, denn nur so, können wir individuell sein. Man muss sich mit sich selbst zuerst befassen, um dann auf andere aufpassen zu können. Man darf sich nicht scheuen ein Bindungsglied in der langen Kette der Individuen zu sein und etwas zu wagen, sich zu trauen den nächsten Schritt auf der Brücke zu gehen, wie dünn, wie vermorscht, vermodert und vermoost sie auch sein mag. Und sie wird halten, weil man riskiert, konfrontiert zu werden und allein dieser Mut wird einen sicher über die Schlucht tragen. Man muss sich bewusst sein, dass der Sprung ins kalte Wasser bevorstehen könnte, aber macht nicht genau das den Menschen menschlich? Die Zumutung des Schicksals und das Nervenkitzeln, etwas verändern zu können, wenn man einen Schritt aus der Reihe tut? Halten wir Stand an den Fronten oder bezwingen wir die Angst – Damokles Schwert baumelt über unseren Köpfen hinweg.

Doch was bedeutet „[..] mitten durch die Gesellschaft [..]“? Ist es wirklich ein Mittelstrich der sich gleichsam wie der Äquator an der Erde hinschlängelt? Die Verteilung von Land, Besitz und Reichtum ist mittlerweile noch ungleicher verteilt, dass dies wirklich zu hinterfragen ist. Das Zitat impliziert mit seiner Formulierung „[..] entgegnen [..]“ auch, dass sich Menschen immer als Rivalen, als Gegner und im Endeffekt Feinde betrachten. Ist vielleicht auf der einen Seite der Kluft Arm, auf der anderen Reich? Politisch links und rechst Orientierte? Spaltet der Riss Geschlechter, Staatsformen, ethische Ansichten? Gibt es vielleicht auch ein schräg links oder hinten rechts neben dem Spalt? Die Gruppen der „Gegner“ sind sicherlich je nach unterschiedlicher Thematik verschieden viel und variieren auch an ihren Anhängern und Anhängerinnen.  Das Selbstverständnis, dass alles schwarz – weiß ist, stellt einen Teil unseres Problems in der Gesellschaft dar. Es gibt nichts dazwischen, nichts zwischen den filigranen Armen einer schneienden Flocke und den feuerroten speienden Worten. Derweil wäre das Farbspektrum doch so bunt und breit und wir nützen es in unserem Hass vor einander nicht. Pinseln weiter mit einem dicken farblosen Strich, übermalen unsere Emotionen und starren in unser Selbstmitleid.

Es hat einen ironischen Beigeschmack, wenn man bedenkt, wie lange der Mensch schon gegen sich selbst kämpft und es noch immer nicht geschafft hat, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Aber vielleicht ist es sein Schicksal, unser Schicksal. Ein jeder kann es nur für sich selbst entscheiden und nach seinen Maximen handeln. Wir sind begrenzt und dadurch auch menschlich und keine Maschinen oder, apollinisch betrachtet, Götter. Das ist das Eintrittsticket in die Welt, das Los, das ein jeder zu tragen hat und ob man daraus Gewinn zieht, hängt von einem selber und seiner Ansicht und Haltung gegenüber der Menschheit ab. Doch das Leben ist viel zu kurz, um nicht den Schritt auf die andere Seite der Brücke zu wagen, um sie verstehen, nachvollziehen und im Endeffekt eine geschlossene starke Menschheit bilden zu können. Es ist unsere Zeit, eine neue Ära an Respekt, Wertschätzung und Vertrauen zu schaffen und damit den riesigen Riss auf Erden zu flicken, damit wir auch heute noch ein Übermorgen haben, an das wir denken können.

Chiara Prieschl

Zitat 3: In einer Welt, in der jeder für sein Leid selbstverantwortlich ist, ist kein Raum mehr für Mitleid und Mitgefühl.  -Edgar Cabanas und Eva Illouz: Das Glücksdiktat

Ein frühes Zeugnis menschlicher Zusammenarbeit ist der Fund eines Urmenschen, dessen Femur gebrochen war und der trotz der Unfähigkeit, für sich selbst zu sorgen, lange gelebt hatte. Wodurch konnte er so lange Überleben? Wieso wurde er nicht seinem Schicksal überlassen und verhungerte? Die Antwort sind die zwei Tugenden, die den Menschen erst zum Menschen machen und vom Tier unterscheiden. Zwei kurze Wörter mit großem Impakt. Zwei Wörter, die die Menschheit erst dorthin gebracht haben, wo sie heute ist. Mitleid, das Leid, das andere „mit“ der betroffenen Person empfinden und Mitgefühl, ein „miteinander fühlen“. Die Empathie, die uns alle verbindet. Nur wenige Tiere können so empfinden wie der Mensch, am eigenen Leib erfahren, wie es einer anderen Person geht.

Doch nun sind diese Gefühle bedroht. Es ist, um es in den Worten von Edgar Cabanas und Eva Illouz zu sagen, „[…] kein Raum mehr […]“. Die Selbstverantwortlichkeit, die schon Kinder von ihren Eltern eingebläut bekommen wirkt sich nun nach hinten aus und verdrängt andere, wichtige Emotionen. Kann Mitleid in einer Welt der Selbstverschuldung bestehen? Können wir Menschen uns in die Lage anderer versetzen, wenn wir der Meinung sind, dass diese an ihren Lebensumständen selbst Schuld sind?

Doch die Frage lautet nicht, wie wir denn noch Mitleid aufbringen sollen. Nein. Die Frage lautet wieso wir eine Welt erschaffen, in der jeder an seinem Leid selbst Schuld sein soll. Genauso, wie ein Kind nichts dafür kann, in eine ungerechte Lebenssituation hineingeboren zu werden, kann auch ein Erwachsener nicht beeinflussen, ob die Verletzung beim Schifahren einmal sein ganzes Leben auf den Kopf stellen wird. Die einzige Möglichkeit wäre gewesen, nicht Schifahren zu gehen und zuhause zu bleiben. Doch wer weiß, vielleicht wäre die Verletzung dann beim Fensterputzen geschehen? Auch das kleine Kind kann nicht selbst entscheiden, ob es geboren wird. Und schon gar nicht, wo genau es auf die Welt kommt. Manche Dinge geschehen einfach. Aber ob dies durch Schicksal oder Glück, Gott oder Zufall entschieden wird, kann nicht determiniert werden. Warum also wird die Schuld immer beim Individuum gesucht? Warum soll die einzig mögliche Erklärung die Selbstverantwortung sein?

Ist die Selbstverantwortlichkeit ein Versuch der Menschheit, die Schuld dem Einzelnen zuzuschieben um die Ungerechtigkeit, die es in der Gesellschaft immer noch gibt, nicht wahrhaben zu müssen? Denn durch das Verlagern dieser Schuld an Individuen werden Machthabende entlastet und sozusagen reingewaschen. Das Problem wird an Stellen gesucht, an denen es kein Problem gibt. Es ist als ob man einen Motorschaden des Autos dem Fahrer zur Last legt und nicht dem kaputten Teil. Der Leidtragende des Schadens ist der Fahrer, nicht das Auto. So ist auch der Leidtragende jeder Einzelne und nicht die Allgemeinheit. Die Gesellschaft funktioniert auch mit den sozial Benachteiligten wie ein gut geöltes Rad. Wieso also die Schuld denen zuschreiben, die in ihrem Leben schon genug Rückschläge erlitten haben?

Die, die in dieser Welt das Sagen haben ziehen sich immer weiter aus der Verantwortung zurück. Die, die in dieser Welt benachteiligt werden, müssen immer entschlossener um ihre Rechte kämpfen. Und die, denen es gut geht, kümmert es nicht, dass in unserer Welt die Ungerechtigkeit vorherrscht. Sollen wir die Schuld nun immer bei uns suchen? Die Christen leben diese Ansichtsweise schon seit hunderten von Jahren. Nicht umsonst gibt es ein Schuldbekenntnis, in dem die Passage „durch meine Schuld, durch meine große Schuld“ die Schuld der individuellen Person zugeschrieben wird. Obwohl damit der Tod Christi gemeint ist, ist der Grundgedanke, die Gläubigen dazu zu bringen, die Schuld bei sich selbst zu suchen und nicht andere dafür verantwortlich zu machen. Bei kleinen Vergehen, wie eine falsche Entscheidung zu treffen, mag das noch stimmen, doch im Großen und Ganzen gesehen, liegt vieles nicht in der Hand der Normalbürger. Können wir überhaupt die volle Verantwortung übernehmen? Was ist unser eigenes Vergehen, was können wir nicht beeinflussen? Ab wann ist etwas unsere eigene Schuld? Diese Schuldfrage ist schon lange ein Mysterium der Menschheit.

Die Verschiebung der Schuld ist ein klares Mittel der Unterdrückung, des Rückzugs der eigentlich Verantwortlichen. Es ist ein Akt der Feigheit. Eine Tat, die, würde sie von einer kleinen Gruppe von Menschen ausgehen, als abartig und inhuman abgestempelt werden würde. Sind Verbrecher für ihre möglicherweise angeborenen sozialen Benachteiligungen selbst Verantwortlich? Nein, denn hier herrscht ein grundlegendes Problem in unserer Gesellschaft vor. Für die getätigten Verbrechen allerdings liegt die Schuld bei der Person selbst. Aber auch hier muss ein Unterschied gemacht werden, welche Delikte begangen wurden. Niemand muss jemanden umbringen, niemand ist auf Vergewaltigung angewiesen. Das sind Taten, für die gibt es keine Ausrede. Aber für andere Verbrechen wie Einbruch oder Diebstahl kann es Gründe geben, warum genau diese Vergehen von genau dieser Person zu genau diesem Zeitpunkt ausgeführt wurden. Hier stellt sich die Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt. Denn der gestohlene Gegenstand könnte eine lebenswichtige Medizin gewesen sein, die sonst zu teuer gewesen wäre. Sieht man die Schuld jetzt beim Staat, da dieser das Medikament nicht leistbarer zur Verfügung gestellt hat, ist der Fall klar. Wir haben Mitleid. Wenn die Schuld nun allerdings bei der kriminellen Person gesucht wird – er hätte ja nicht krank werden müssen – hält sich das Mitgefühl in Grenzen. Wo liegt aber der richtige Ansatz?

Soll nun die Selbstverantwortung das Mitleid verdrängen? Sollen wir auf eben jene Gefühle verzichten, die aus uns empathische Wesen machen? Hier gibt es nur eine Antwort. – Nein!

 „In einer Welt, in der jeder für sein Leid selbstverantwortlich ist, ist kein Raum mehr für Mitleid und Mitgefühl“ – die einzige Verantwortung, die wir als Menschen haben, ist zu entscheiden, ob unsere Gesellschaft in dieser Form bestehen kann, wenn das Mitgefühl wegfällt. Organisationen wie die Caritas oder das rote Kreuz, ja sogar Ärzte und andere soziale Berufe würden in Verruf gelangen. Denn warum sollten sie Menschen helfen, die selbst an allem Schuld sind? Warum sich abmühen, wenn das Leid jener Bedürftigen einen nicht mehr trifft? Unsere Gesellschaft braucht ein Miteinander, nicht ein Gegeneinander. Es braucht Stützende und Gestützte. Hilfsbedürftige und Hilfsbereite. Nur durch ein Miteinander, durch ein gegenseitiges abnehmen der Schuld kann die Menschheit als Gemeinschaft bestehen.

Der Grundpfeiler einer Gesellschaftsgruppe ist immer die Zusammenarbeit. Wie eine Arbeiterbiene den ganzen Schwarm nicht alleine versorgen kann, schafft es eine Königin auch nicht, alleine zu überleben. Wird das Sterben einer einsamen Biene nun als ihre eigene Schuld angesehen oder mit dem Fehlen des restlichen Schwarms in Verbindung gebracht? Dieses Support-System, das wir in unserer Gesellschaft haben ist mit einem Bienenstock gleich zu setzten. Nur, dass der Hintergedanke ein anderer ist. Ein Mensch kann alleine überleben. Eine Biene nicht. Eine Biene arbeitet um den Schwarm zu erhalten, weil sie gar nicht anders kann. Ein Mensch nicht. Mitleid und Mitgefühl ersetzen diese angeborenen Instinkte, die den Menschen fehlen. Sie sind wichtige Ersatzfunktionen, die das Fortschreiten der Menschheit garantieren. Ein anderes Beispiel wäre ein Fischschwarm. Je größer der Schwarm, desto kleiner die Wahrscheinlichkeit gefressen zu werden, aber auch eine größere Wahrscheinlichkeit, weniger Nahrung zu finden. Es ist ein Geben und Nehmen. Das Eintauschen von genügend Nahrung gegen den Schutz den die Masse bringt. So muss auch der Mensch Steuern zahlen, um von öffentlichen Mitteln und Auffangnetzen zu profitieren. Eben dieses Tauschgeschäft wird durch die vollkommene Selbstverantwortung zunichte gemacht. Das Nehmen wird reduziertun und das Geben ins unermessliche erhöht. Zahl in die Gemeinschaftskasse ein aber bekomm keine Gegenleistung! Du bist ja selbst an deinem Schicksal schuld also schau wie du alleine zurecht kommst!

Vielleicht wäre es an der Zeit, das Verhalten, welches manche Gruppen an den Tag legen, zu überdenken. Zu beurteilen, wie menschlich der Mensch heutzutage noch ist. Haben wir überhaupt noch das Zeug dazu, richtig Mitleid zu verspüren? Oder sind wir durch die Nutzung der Sozialen Medien schon zu abgestumpft? Mitgefühl muss wie ein Messer behandelt werden, welches immer wieder den Metzstein des imaginär vorgehaltenen Spiegels verlangt. Ein Spiegel, welcher uns unser Verhalten vor Augen führt und auf Dinge hinweist, die wir von uns aus nicht entdeckt hätten. Mitleid ist keine Achillesferse der Menschheit. Es kann vielmehr als eine Rüstung gesehen werden, die unsere Menschlichkeit bewahrt. Ein Helm, der uns vor herabregnenden Pfeilen der Selbstüberschätzung schützt. Ein Schild, der das Ungeheuer der Isolation abhält. Mitleid und Mitgefühl sind unsere besten Waffen um der Ungerechtigkeit in der Welt in den Weg zu treten. Sie sind der letzte Atemzug, der auf dem Schlachtfeld gegen die Apathie der Gesellschaft getan wird.